„Du bist nicht mein Seelenverwandter!“ – Eine therapeutische Reflexion über moderne Beziehungsideale

Der Ausgangspunkt: Ein typischer Therapiefall

Ein Paar, beide 32 Jahre alt, sitzt in meiner Praxis in Waiblingen. Sie schauen sich kaum an, als sie sagen: „Wir lieben uns, aber irgendwas fehlt. Vielleicht sind wir einfach nicht füreinander bestimmt?“ Diese Worte höre ich immer häufiger in meiner Arbeit als Heilpraktiker für Psychotherapie und Paartherapeut.

Als Millennial, Autist und langjähriger Single kenne ich diese Gedankengänge auch aus eigener Erfahrung. Sobald beim Dating das Wort „Autismus“ fällt, ist das Gespräch meist beendet. „Du bist toll, aber…“ – ein Satz, den viele Menschen mit besonderen Bedürfnissen kennen.

 

Die Rolle als therapeutisches Konzept

 

In meiner Arbeit orientiere ich mich stark an den Erkenntnissen von Jacob Levy Moreno, dem Begründer des Psychodramas. Nach Moreno ist jede Partnerschaft Teil eines „sozialen Atoms“ – einem komplexen Geflecht von emotionalen, sozialen und kulturellen Beziehungen, in denen Rollen ständig neu definiert und ausgehandelt werden.

 

Die gefährlichen fixen Rollenbilder

 

In der modernen Partnersuche beobachte ich jedoch eine problematische Tendenz zu starren Rollenbildern:

„Die perfekte Partnerin“ – Ein Idealbild, das alle gewünschten Eigenschaften in einer Person vereint

Der Seelenverwandte“ – Die Vorstellung, jemand müsse einen vollständig verstehen und ergänzen

„Die Unabhängige“ – Die Rolle derjenigen, die sich durch eine Beziehung nicht verändern lassen will
„Der Optimierer“ – Die Haltung, dass immer noch jemand Besseres „da draußen“ wartet

Diese Rollen werden zu Gefängnissen, die echte menschliche Begegnungen verhindern.

 

Meine Generation in der Perfektionsfalle

 

Als Therapeut beobachte ich bei Millennials eine besondere Herausforderung: Wir sind die erste Generation, die Liebe wie ein Produkt behandelt – mit Rückgaberecht bei kleinsten Makeln. Die Folgen sehe ich täglich in meiner Praxis:

Menschen mit 500 Online-Matches, die aber bei der ersten Unperfektion das Interesse verlieren

Partner, die sich trennen, sobald die Beziehung Arbeit erfordert

Singles um die 40, deren Kinderwünsche unerfüllt bleiben, weil sie nie jemanden gefunden haben, der „perfekt genug“ war

 

Die persönliche Dimension

 

Als Single mit 41 Jahren erlebe ich diese Dynamiken am eigenen Leib. In meiner therapeutischen Arbeit helfe ich Paaren dabei, ihre Beziehungsprobleme zu lösen – während ich selbst noch immer auf der Suche bin. Diese Ironie ist nicht nur schmerzhaft, sondern auch lehrreich.

Die Erwähnung meines Autismus führt beim Dating oft zu sofortigem Desinteresse. Menschen sortieren sich aus, bevor sie überhaupt verstehen, was Neurodiversität bedeuten könnte. Dabei zeigt die Forschung: Authentische Profile, die auch Besonderheiten erwähnen, führen zu stabileren Beziehungen.

 

Morenos Rollenlehre in der Praxis

 

In der Psychodrama-Therapie arbeite ich mit Paaren daran, ihre eingefahrenen Rollen zu erkennen und neue Möglichkeiten zu entdecken. Konkret bedeutet das:

Rollenumkehrung

Partner lernen, in die Rolle des anderen zu schlüpfen. „Wie fühlt es sich an, wenn du mich kritisierst?“ Diese Technik schafft Empathie jenseits starrer Erwartungen.

Rollenerweiterung

Menschen entdecken, dass sie mehr sind als ihre gewohnte Rolle. Die „immer starke“ Partnerin darf auch mal schwach sein. Der „rationale“ Partner darf Emotionen zeigen.

Spontaneität und Kreativität

Moreno betonte, dass echte Begegnungen spontan und kreativ sind. Fixierte Idealbilder verhindern diese Spontaneität.

 

Die therapeutische Erkenntnis

 

Nach Jahren der Arbeit mit Paaren und eigenen Dating-Erfahrungen ist mir klar geworden: Die Suche nach dem „perfekten“ Partner killt mehr Beziehungen, als sie entstehen lässt.

Menschen sind keine fertigen Produkte. Sie entwickeln sich, haben schlechte Tage, überraschen uns – positiv wie negativ. Die Frage ist nicht: „Ist er/sie der/die Richtige?“ Sondern: „Sind wir bereit, gemeinsam zu wachsen?“

Praktische Umformulierungen aus der Therapie

Statt: „Du bist nicht mehr der, den ich geheiratet habe“
Besser: „Ich entdecke neue Seiten an dir. Wie können wir damit umgehen?“

Statt: „Wir passen einfach nicht zusammen“
Besser: „Welche Rollen können wir entwickeln, damit es besser funktioniert?“

Statt: „Da draußen gibt es bestimmt jemand Besseren“
Besser: „Was können wir aus unserer Beziehung machen?“

 

Der Generationenvergleich

 

In meiner Praxis frage ich mich oft: Sind wir Millennials die erste Generation, die Liebe so perfektionistisch betrachtet? Oder hatten frühere Generationen einfach weniger Optionen?

Ältere Klienten erzählen mir von einer Zeit, in der man „zusammengebissen“ hat, in der Kompromisse selbstverständlicher waren. War das besser? Oder romantisieren wir eine Zeit, in der Menschen in unglücklichen Ehen gefangen waren?

Die Wahrheit liegt vermutlich dazwischen: Wir brauchen sowohl die neue Freiheit der Partnerwahl als auch die alte Bereitschaft, an Beziehungen zu arbeiten.

 

Meine therapeutische Haltung

 

In meiner Praxis in Waiblingen arbeite ich mit einem integrativen Ansatz, der Psychodrama, tiefenpsychologische Erkenntnisse und systemische Methoden verbindet. Dabei geht es mir nicht darum, Menschen zu überreden, in unpassenden Beziehungen zu bleiben. Vielmehr helfe ich dabei:

  • Unrealistische Erwartungen zu erkennen und zu hinterfragen
  • Die eigenen Rollen-Muster zu verstehen
  • Neue Formen der Begegnung zu entwickeln
  • Authentische Verbindungen zu ermöglichen

 

Fazit: Liebe als kreativer Prozess

 

Liebe ist kein Produkt, das man findet, sondern ein kreativer Prozess, den man gestaltet. Sie bedeutet nicht, jemanden zu finden, der perfekt zu einem passt, sondern jemanden, mit dem man bereit ist zu wachsen – auch wenn es manchmal anstrengend ist.

Als Single und Therapeut lerne ich täglich: Die „falschen“ Menschen sortieren sich von selbst aus. Die richtigen sind bereit für den Prozess – mit all seinen Unperfektion.

In einer Zeit, in der Dating-Apps uns endlose Optionen suggerieren, ist das vielleicht die wichtigste Erkenntnis: Gute Beziehungen entstehen nicht durch perfekte Matches, sondern durch die Bereitschaft, gemeinsam unvollkommen zu sein.