
Warum Yoga und Meditation gerade für neurodivergente Menschen besonders wertvoll sind
Von Gunnar Keck
Immer wieder höre ich: „Yoga und Meditation sind nichts für Autisten und neurodivergente Menschen.“ Als Autist, der seit über 20 Jahren praktiziert, möchte ich mit diesem Mythos aufräumen. Das Gegenteil ist der Fall – Yoga und Meditation sind geradezu ideal für die besonderen Bedürfnisse neurodivergenter Menschen.
Vielfalt statt Klischees
Meditation bedeutet nicht stundenlanges, bewegungsloses Sitzen. Es gibt Bewegungsmeditation, Atemfokus, Körperwahrnehmung oder achtsame Alltagshandlungen. Diese Vielfalt ermöglicht es, je nach Situation die passende Praxis zu wählen:
Bei Überstimulation können 60-90 Minuten Yin Yoga in der Stille – mit entspannenden, durch Hilfsmittel angepassten Positionen – ein völliges Loslassen ermöglichen. Bei niedergeschlagener Stimmung hilft kraftvolles Hatha Yoga, neue Energie zu wecken. Metta-Meditation (liebende Güte) kann bei Wut harmonisierend wirken, während Vipassana-Meditation dabei hilft, mit Reizen besser umzugehen.
Energielosigkeit verstehen und wandeln
Nach einem Tag voller Maskierung und Reizverarbeitung kennen viele die bleierne Müdigkeit. In der Yogaphilosophie heißt dieser Zustand Trägheit (Tamas) – ein natürlicher Rhythmus, der bewusst beeinflusst werden kann. Gezielte Yogapraxis wirkt wie ein sanfter Motor, der die Lebensenergie wieder zum Fließen bringt.
Overload, Meltdown und Shutdown regulieren
Bei Reizüberflutung – Bewegung und Unruhe (Rajas) – läuft das Gehirn auf Hochtouren. Paradoxerweise können gerade kraftvolle, herausfordernde Körperhaltungen (Asanas) helfen. Entscheidend ist, dass sie für die Person anspruchsvoll genug sind, um den Fokus vollständig zu verändern. Die intensive Konzentration sammelt das zerstreute System wieder.
Bei einem Shutdown – wenn das System in Erstarrung verfällt – kann Yin Yoga durch langes Verweilen in energetisierenden Asanas behutsam wieder Energie aufbauen.
Wer regelmäßig praktiziert und anspruchsvolle Positionen beherrscht, hat einen Notfallkoffer zur Selbstregulation. In Kombination mit Reizunterdrückung (Gehörschutz, Rückzug) können diese Techniken genau dann eingesetzt werden, wenn sie am dringendsten gebraucht werden.
Der innere Beobachter als Schlüssel
Das beobachtende Bewusstsein (Purusha) ist eines der wertvollsten Geschenke der Praxis. Statt „Ich bin kaputt“ entsteht die Erkenntnis: „Ich erlebe gerade einen Overload.“ Diese Unterscheidung verändert alles – aus Selbstverurteilung wird Selbstfürsorge.
Parallel entwickelt sich die Unterscheidungskraft (Buddhi) – die Fähigkeit zu erkennen: Brauche ich jetzt Ruhe oder Aktivierung? Diese wird zu einem unverzichtbaren Navigationsinstrument im Alltag.
Besondere Stärken nutzen
Neurodivergente Menschen bringen oft ideale Voraussetzungen mit:
- Intensive Fokussierung: Die Fähigkeit zur Tiefe ist ein Geschenk für die Meditation
- Feine Körperwahrnehmung: Sensitivität wird in der Praxis zur Stärke
- Authentizität: Praktizieren für sich selbst, nicht für andere
- Systematisches Denken: Hilfreich beim Verstehen yogischer Prinzipien
Das Ziel: Balance und Selbstakzeptanz
Klarheit und Harmonie (Sattva) bedeutet nicht, immer gleich zu sein, sondern flexibel auf eigene Bedürfnisse zu reagieren. Die Yogaphilosophie lehrt, dass alles Veränderliche – Gedanken, Gefühle, Reaktionsmuster – zur Schöpferkraft (Prakriti) gehört. Neurodivergenz ist nicht „falsch“, sondern Teil der natürlichen Vielfalt menschlicher Erfahrung.
Anpassung der Praxis, nicht der Person
Der Schlüssel liegt in der Anpassung der Praxis an individuelle Bedürfnisse: kürzere Einheiten, mehr Bewegung, klare Struktur oder sensorische Hilfsmittel. Yoga und Meditation sind anpassungsfähig und können für jeden Menschen zugänglich gestaltet werden.
Ein Werkzeugkoffer für das Leben
Diese Praktiken helfen nicht dabei, „normal“ zu werden – sie helfen dabei, mit der eigenen Neurodivergenz bewusst zu leben. Sie bieten Verständnis für innere Prozesse und Werkzeuge für deren bewusste Gestaltung.
Als Autist, der diese Praxis seit über zwei Jahrzehnten lebt, kann ich sagen: Es funktioniert. Nicht immer perfekt, aber oft genug, um einen echten Unterschied zu machen. Neurodivergenz ist keine Schwäche – sie ist eine andere Art, die Welt zu erleben. Yoga und Meditation helfen dabei, diese besondere Art des Seins zu verstehen, zu schätzen und bewusst zu gestalten.